DER HÄSSLICHE - EINE MÖGLICHE LESART
//Wer sich selbst verloren hat, verliert auch sein Gegenüber.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Oder ein Herdentier. Oder ein Rudeltier. Der Ausstoß aus der Gemeinschaft in früheren Stammesgesellschaften war ein Todesurteil. Dazugehören ist alles. Ich behaupte – auch heute noch. Und unsere Gesellschaft hat Normen festgelegt, die erfüllt werden müssen, um dazuzugehören. Leistungsfähigkeit, "Leistungsbereitschaft" fallen mir als erstes ein. Dazu gehören Gesundheit und ein gewisses Maß an materiellem Wohlstand, auch ein gewisses Maß an Schönheit. Zugehörigkeit, Anerkennung in der Gemeinschaft "wer" zu sein wird in erster Linie durch finanzielle Zuwendung ausgedrückt. Ausgestoßen werden Kriminelle, Kranke, Arbeitslose. Die Gesellschaft konstituiert sich über ihre "Randgruppen", über ihre Ausgestoßenen, ihren "Auswurf". Um ein "Innen" zu definieren, braucht es ein "Außen". Und wir tun alles, fast alles, um zum Innen zu gehören.
Lette ist hässlich. Unvorstellbar hässlich. Bis zu einem gewissen Grade hat er es geschafft, dazuzugehören, trotz seines Makels, trotz seiner Hässlichkeit, über die nichts hinwegtäuschen kann, er hat einen Beruf, er hat eine Frau. Doch dann konfrontieren ihn die Anderen mit seinem Makel, er hindert ihn, in seinem Beruf voranzukommen (eigenartigerweise ist auch ein Vorankommen nötig um dazuzugehören, Stillstand wird sanktioniert) Ihm wird bewusst: wirklich dazugehört hat er nie. Jetzt droht ihm der Ansehensverlust in seinem Beruf, ein langsames Ausscheiden aus der Gemeinschaft. Die Angst – Todesangst hat ihn gepackt. Und er ist bereit, alles, aber auch alles zu tun, um den Makel zu beseitigen, um wieder ein angesehenes, anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Lette lässt sich ein neues Gesicht machen, ein schönes Gesicht, das ihn so verändert, dass er nicht mehr zu erkennen ist.
Lettes Gesicht steht für seine Persönlichkeit, sein Ich und Lette gibt seine Persönlichkeit auf. Er verleugnet und verdrängt seinen Makel, die hässlichen Anteile seiner Persönlichkeit, er verbirgt sie, versucht sie auszulöschen. Und tatsächlich: mit dem neuen Gesicht verliert er alles aus den Augen, was ihm bis dahin wichtig war: die Beziehung zu seiner Frau und seinen Beruf als Techniker. Er verschwindet, geht ganz in der Gemeinschaft auf und in dem, was die von ihm scheinbar erwartet: sein schönes Gesicht zu verwenden, um seiner Firma Geld einzubringen.
Doch wir können nur Mitglied einer Gemeinschaft sein, wenn wir selbst "wer" sind, nur wenn wir unsere Persönlichkeit einbringen, auch die hässlichen Seiten, auch das Unerwünschte, das Unpassende. Sonst verlieren wir uns. Eine Gesellschaft ist der Zusammenschluss ihrer Individuen. Und Lette hört auf ein solches zu sein. Ausgedrückt wird das in der steigenden Anzahl von Leuten, die plötzlich mit Lettes Gesicht herumlaufen. Lette ist aufgegangen in einem Einheitsbrei, in einer Gemeinschaft von gleichen Gesichtern, die keine mehr ist, weil nichts das eine Mitglied vom Anderen unterscheidet. Jetzt hat Lette nicht nur den Anschluss an eine Gemeinschaft verloren, er hat seine Selbstbeziehung verloren, die die Grundlage, die absolute Grundlage ist, um sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen. Wenn uns nichts unterscheidet, können wir auch nicht zusammengehören. Wer sich selbst verloren hat, verliert auch sein Gegenüber.
Lette, der sich zum Spielball äußerer Mächte und Entwicklungen hat machen lassen, bis zur Selbstaufgabe, hat seinen persönlichen Tod gewählt.
(Julia Fäcke)