POTENTIELLE LITERATUR
//Beschränkung gibt Freiheit
Nehmen wir einmal an, wir täten einen Text schreiben, der gänzlich das „o", das „u", das „ö", das „ü" tilge, ja, meine, die Abwesenheit dieser Lettern allein schaffe bereits K..., ich meine "art". Dann nähert man sich dem literarischen Schaffen der – und nun kommt man um „u" und „o" schon nücht mehr vorbei – Gruppe „Oulipo" (Ouvroir de littérature potentielle).
Ebenso können wir als Referenz an die Weiblichkeit und Sinnlichkeit von Kunst und Literatur nur noch feminine großgeschriebene Buchstabenkombinationen verwenden, wir können die formale Beschränkung nutzen, um der Sprache unsere Ehrerbietung anzutragen. Denn nur die Beschränkung kann uns wahre künstlerische Freiheit geben. Und hier müssen wir zu solchen wechseln, die einen männlichen Artikel tragen, schließlich war auch der Großmeister ein Mann, nämlich der Goethe. Er schrieb gar meisterhaft in einem seiner lyrischen Texte:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Da wir mit diesem Text, den Sie gerade lesen, zunächst einmal nichts Großes wollen, sondern lediglich einen Einblick in die potentielle Literatur gewähren möchten, soll es das nun gewesen sein mit Beschränkung und formalen Regeln.
Goethe und die in den 1960er Jahren in Frankreich gegründete Gruppe „Oulipo" teilen einen grundlegenden Gedanken. Das obige Zitat stammt aus Goethes Sonett „Natur und Kunst". Das Sonett bürdet dem Dichter formale Zwänge auf, zwängt ihn in ein Korsett. Doch erst dadurch könne Großes und wahre Kunst entstehen – so Goethe. Die Gruppe „Oulipo" – Georges Perec war eines der prominenten Mitglieder – gibt sich zwar nicht ganz so dogmatisch, der Grundgedanke ist aber derselbe. Die Oulipoten spielen mit der Sprache, verzichten in ihren Texten komplett auf den Buchstaben „e", verwenden nur weibliche oder nur sachliche Substantive oder legen sich andere mathematische oder grammatikalische Regeln auf. Der formale Zwang erfordert nun akrobatische Sprachexperimente, um in Erfüllung zu gehen.
Damit ist potentielle Literatur nicht nur Spiel und Spaß – das freilich auch –, sie ist vor allem eine Verbeugung vor der Sprache.