DREI FRAGEN AN DEN REGISSEUR

//Regisseur Dietrich Lenz zu "69"

Theater4: Kannibalismus scheint zunächst ein abseitiges Thema. Inwiefern ist das Stück für einen "durchschnittlichen" Menschen interessant, der keine Neigungen dieser Art hegt?

Dietrich Lenz: Gegenfrage: Was hält einen "durchschnittlichen" Menschen davon ab, bei Zeitungsartikeln oder Fernsehbeiträgen, die sich mit einem solchen Thema befassen, einfach weiterzublättern oder umzuschalten?
Zugegebenermaßen stellt Kannibalismus in unserer Gesellschaft ein sehr seltenes, extremes Phänomen dar. Im Bezug auf "69" dient er allerdings mehr als Beispiel für all die unfassbaren Taten und Perversionen in der heutigen Zeit, die zwar weniger abseitig erscheinen mögen, aber dennoch nicht minder verwerflich sind. Tatsache ist, dass diese Dinge geschehen und dass es sich bei den Tätern nicht ausschließlich um offenkundig gescheiterte Randexistenzen, sondern oftmals um Menschen aus unserer Mitte handelt.
Wir, die wir "normal" sind, schütteln den Kopf, wenden uns aber nicht ab. Wir fragen uns vielleicht, was diese Menschen zu ihren Taten treibt. Wir reagieren vielleicht mit Ekel und Abscheu. Doch wir sind auch neugierig. Wir wollen wissen, was in dem dunklen Kellergewölbe, dem abgeschiedenen Wäldchen, in der Anonymität der Plattenbausiedlung oder in dem ganz gewöhnlichen Einfamilienhaus geschah. Oftmals sind es gerade diese Abgründe, die uns beinahe unmerklich anziehen. Und schnell verschwimmen die Grenzen zwischen der tragischen Geschichte und der perversen Freakshow, dem Verstehen wollen und der Sensationslust.
Es dreht sich also nicht nur um die Täter, sondern auch um deren Publikum.

Theater4: Es sind nur drei Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Das birgt die Chance der Konzentration ebenso wie die Gefahr der Statik. Wie empfindest Du die Arbeit mit einem kleinen Ensemble?

Dietrich Lenz: Letztlich besteht die Herausforderung doch immer darin, das Publikum mit der Geschichte, die man erzählt, zu fesseln. Zwar schränkt eine Produktion mit einem kleinen Ensemble auf stark begrenztem Raum die Inszenierungsmöglichkeiten ein, jedoch bietet sie dem Regisseur und den Schauspielern auch die Möglichkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sowohl die Arbeit mit dem Text als auch die Entwicklung der einzelnen Charaktere ist deutlich intensiver. Man verlässt sich mehr auf die Qualität des Stückes und die Spielfreude der Darstellet.

Theater4: Mit "69" startet theater4 eine Werkstattreihe. Hat sich die Arbeit an einer Inszenierung sehr geändert? Wie schlägt sich der Werkstattgedanke im Ergebnis nieder?

Dietrich Lenz: Nichts lenkt ab. So einfach lässt sich vermutlich der Unterschied zu einer "großen" Produktion beschreiben. Man verfügt von der ersten Probe an über die Mittel, die später auch während der Aufführungen vorhanden sein werden. Im Fall von "69" heißt das: Ein Tisch, zwei Stühle und drei Schauspieler.
Das Publikum muss sich dabei natürlich mit einer deutlich abstrakteren Umgebung auseinandersetzen. Was allerdings auch einen gewissen Reiz bieten kann.
Für theater4 bedeutet eine Werkstattreihe vor allem die Chance, mehr als eine Produktion im Jahr auf die Beine stellen zu können und darüber hinaus sich auch Stücken zu widmen, die ansonsten vielleicht nicht in Frage kämen. Ob man hierbei so minimalistisch vorgehen muss wie im Falle von "69" sei dahingestellt. Die kleine Produktion ermöglicht uns aber auch endlich, Gastspiele auf anderen Bühnen oder in anderen Städten realisieren zu können. Ein Vorhaben, das bislang aufgrund unserer ausladenden Bühnenbilder nicht gelingen konnte.