DIE STERNTALER
Ein armes Waisenmädchen, das außer einem Stück Brot nichts besitzt, geht in die Welt hinaus. Unterwegs verschenkt es sein Brot, dann seine Mütze, sein Leibchen, sein Röckchen und schließlich auch sein Hemdchen an andere Bedürftige. Da fallen die Sterne als Silbertaler vom Nachthimmel, und es hat ein neues, feines Leinenhemdchen an, in das es sie aufsammelt. Und so ist es reich bis zum Lebensende.
So wird ein frommes, barmherziges, und großzügiges Mädchen vom Himmel überreichlich belohnt für seinen Verzicht, ihre Duldsamkeit, ihren braven, untertänigen Charakter. Nicht umsonst ist diese Geschichte in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (ab 2. Auflage von 1819) erschienen. Schon damals eben ein Märchen. Ein Märchen. Und was für ein Märchen! "Einen Affen würden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringen, Ihnen eine Banane abzugeben, indem Sie ihm grenzenlose Bananenschätze nach dem Tod versprechen." (Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit)
Tilda, oh Tilda. Wie anrührend, dass auch Du noch versuchst, mit Solidarität und Empathie auf dieser Welt zu bestehen. Dabei funktioniert der Mensch und die Welt, die er sich Untertan gemacht hat, nach ganz anderen Maßstäben und Kriterien. Und so nimmt eine goldgewordene Märcholypse ihren Lauf. Zwar regnet es auch hier Gold und ganz kurz halten alle ihr Hemdchen auf. Doch dann splittern Glas und Knochen, spritzen Blut und Erbrochenes. Was im Märchen als Belohnung vom Himmel fällt, schlägt die kapitalistische Welt in Philipp Gärtners Debüt zu Brei. Gärtner holt das Sterntaler-Motiv in ein modernes Berlin und schickt seine Protagonisten in die Apokalypse.
Das "Wunder ohne Nutzen" stellt das System auf den Kopf und kehrt gleichzeitig sein Innerstes nach außen: Während die einen plündern und noch aus den Toten Kapital schlagen, fliehen die anderen in die Berliner Kanalisation. Wo längst eine Parallelwelt existiert.
In atemberaubendem Tempo rennt die Menschheit in die unausweichliche Katastrophe. Die einzige Gerechtigkeit in "Gold": Alle Gesellschaftsgruppen sind gleichermaßen betroffen – von der Anwältin bis zum Obdachlosen, von der Sprechstundenhilfe bis zum Prepper. Mit seinen Figuren zeigt uns Philipp Gärtner einen Querschnitt durch die (Berliner) Gesellschaft. Da wird berlinert, politisch korrekt gegendert, Fairtrade-Kaffee verkauft und viel Verständnis gezeigt, doch am Ende um jeden Euro gefeilscht. Das ist lustig und überspitzt, doch das Lachen bleibt einem im Halse stecken.
Spätestens wenn ein sprechendes Auto zu Bedenken gibt, dass seine Karosserie noch in Jahrtausenden nicht verrottet sein wird. Das biologische Leben hingegen sei nur ein Augenblick in der Geschichte des Planeten.
Wofür also noch kämpfen, wenn ohnehin alles kaputt ist? Der Goldhagel nützt niemandem etwas, doch er zwingt die Figuren zum Handeln. Und vielleicht ist jetzt die Zeit derer gekommen, die das "Schweinesystem" in den Untergrund gespuckt hat.
Der Mensch ist zum Herren des Planeten und zum Schrecken des Ökosystems geworden. Er hat die Fähigkeit zu schöpferischem und zu zerstörerischem Handeln wie kein anderes Lebewesen. Und jetzt steht die Menschheit an einem Punkt, an dem sie schnell entscheiden muss, welchen Weg sie gehen will.