DIE BALLADE VOM GROSSEN MAKABREN
//von Michel de Ghelderode
//23. - 26. April 1992
Wenn der rote Komet erscheint, kommt über Breughelland der Antichrist!
Alarm! Er kommt, er ist gekommen! Wer? Na er, der Strickeschneider, der Menschenfresser, der Knochenlose, der Anzeiger und Verkünder der Kataklysmen, der Verordner des großen Zähneklapperns, der Herr über alle Maden, der Würger, der Erdrossler, der Zerschmetterer, der Zermalmer, der Halsabschneider, der Vernichter...
Kommen wird der, den niemand erwartet. Lauft herbei, betrachtet und bewundert... Alles auf der Plätze. Um Mitternacht wird das Theater in Flammen aufgehen, es wird bersten und zusammenstürzen und nichts wird dem grandiosen Schauspiel gleichen.
Kommt herbei, ihr Jungen und Alten, ihr Weisen und ihr Toren, ihr Reichen und ihr Armen, ihr Schwachen und ihr Mächtigen, ihr Bösen und ihr Guten, ihr Schönen und ihr Hässlichen, ihr Schlauen und ihr Dummen. Hereinspaziert, hereinspaziert, wer sehen will, was man noch nie gesehen hat und auch nie wieder sehen wird. Wir spielen nur ein einziges Mal. Drum kommt herbei mit euren Gewissensbissen, euren Testamenten, euren Nachttöpfen, eurem Gold und eurem Silber.
Er ist gekommen! Verkündets überall! Putzt euch die Nase, wischt euch den Arsch ab. Das Spiel beginnt. Wir fangen an!
Hereinspaziert, hereinspaziert! Platz ist für alle da und Platz für alle gleichermaßen. Niemand wird der erste sein oder der letzte, das garantieren wir euch. Alarm! Er ist gekommen...Wer denn?...Na er, der sichelnde, der mähende, der bummelnde, der stinkende, der entwaffnende, der flackernde, der Entsetzen einflößende, der kaltmachende, der vernichtende, der alles verschlingende Nekrozotar, der euch in seinen Marionettensack stecken wird, in seine Wurstmühle: Nekrozotar, der in seiner Art einzigartige, der unfehlbare, der mit den unglaublichen Empfehlungen, mit den Wunderfingern, mit dem unschlagbaren Rekord! Mögen die Ungläubigen, die Skeptiker und die Unredlichen den Kopf etwas heben, damit sie sein Zeichen sehen!
Aber bevor Mitternacht gekommen ist werdet ihr noch ganz andere Wunder schauen!
Alarm! ... Die Vorstellung beginnt ...
ÜBER DEN AUTOR
//Michel de Ghelderode (1898-1962)
Der belgische Schriftsteller, der in seinen mehr als 50 Dramen die Spannung des Menschen zwischen den irrationalen Mächten von Gut und Böse thematisierte, wollte bewusst Anstoß erregen. Als ein Feind von Norm, Konvention und Spießbürgertum zeigt er in seinen mystischen Werken viel Abstoßendes und oft eine gewalttätige Welt.
Bei Ghelderode tritt der Tod in leibhaftiger Gestalt, als Ausgeburt der Todesfurcht unter die "Helden": Diese seltsamen Versammlungen menschlicher Lebewesen, Könige und Säufer, Pantoffelhelden und tyrannische Eheweiber, machtgierige Minister, Philosophen, Sterndeuter und immer einige Menschen unter ihnen allen: reine Liebende. Oft blitzt die Menschlichkeit unter dem Schalk der Narrenkappe auf, oft verbirgt sich Unmenschliches unter Krone und Robe.
Ort fast aller Dramen Ghelderodes ist eine Landschaft aus Bildern eines Pieter Brueghel oder eines Hiernonymus Bosch. Die Atmosphäre eines bevorstehenden Weltunterganges weht in den Szenen voll Unheimlichkeit und oft beklemmender Lächerlichkeit. Groteske Tragik, aber auch zarte Poesie und sanfte Schönheit strömen ein in seine Dramatik.
Auch in der "Ballade vom großen Makabren" tauchen all diese Bilder, Personen und Stimmungen auf.
Die Unfähigkeit der Menschen zu einem friedlichen und zufriedenen Zusammenleben veranlasst den tödlichen Reiter Nekrozotar dazu, allem Sterblichen ein jähes Ende zu bereiten. Angekündigt durch einen roten Kometen und begleitet von einem Trunkenbold und einem Philosophen tritt er seinen Verderben bringenden Ritt durch das Fürstentum Breughelland an.
Angesichts einer Welt, die ihr eigenes Ende vorzubereiten schien, schrieb Ghelderode im Jahre 1936 seine "Ballade vom großen Makabren". Der mittelalterliche Stoff, der in der Angst des Menschen vor einem immer möglichen Ende der Welt wurzelt, hat bis heute - oder gerade heutzutage - nichts von seiner Aktualität eingebüßt.