DAS UNVORHERGESEHENE IM THEATER
//Der Text ist nur der Anlass
Ein Mann kommt auf die Bühne, eine junge Frau folgt ihm, sie bleibt stehen, beobachtet ihn.
Der Mann sagt: So.
Und sie: Das ist dein erstes Wort heute.
Er: Wirklich?
Sie: Und das dein zweites.
Und er: Siehst du.
Sie: Auf der ganzen Fahrt kein Wort.
Er entfernt sich von ihr, zückt einen Kalender und überblickt seine Termine. Die Notizen in seinem Kalender sehen wir nicht, aber wir wissen: Der Mann ist jemand, der seinen Tag überblickt. Doch der Tag bringt Unvorhergesehenes, Unnotiertes. Das Unvorhergesehene wird zum Theaterstück.
Für Herbert Meier (geb. 1928 in Solothurn/Schweiz) ist es das, was ihm das Medium Theater eröffnet: Das Unvorhergesehene Schritt für Schritt zu entwerfen, es zu Situationen und Beziehungen zu verdichten, so dass es zu einer "Nachricht" über menschliche Verhältnisse wird. Diese Nachricht aber ist nicht programmierbar, ist folglich nicht greifbar, ist nicht einfach umsetzbar in Szenen. Sie bildet sich erst im Wechselspiel von Situationen und Figuren. Sie entsteht durch das Stück. Das Stück wird erst ganz auf der Bühne.
Für uns heißt das:
Das Stück wird erst ganz während der Probenzeit, mit der Inszenierung, mit unserer wachsenden sich langsam bildenden Vorstellung vom Stück und den darin vorkommenden, sich ebenso erst entwickelnden Charakteren. Auch während unserer ganz konkreten Arbeit am Stück offenbart sich Unvorhergesehenes. Ganz zu schweigen von den äußeren Umständen, die immer wieder ungeahnte, unvorhersehbare Schwierigkeiten aufwerfen, ist die innere Bewältigung des Stückes eine problemträchtige, weil eben unvorhersehbare Aufgabe der inszenierenden Theatergruppe.
Hier ist das Buch - der gedruckte Text - lediglich Anlass und Partitur. Die Interpretation ist Sache des Regisseurs und der Schauspieler, ist somit unsere Sache. Darin liegt alle Gefahr des Theaters, aber auch eine permanente Chance. Diese Chance wiederum ist die treibende Kraft, die uns alles Unvorhersehbare bewältigen lässt und unsere Freude am Theater ausmacht.